OFFENER BRIEF DES STELLVERTRETENDEN VORSITZENDEN DES VERBANDES DER DEUTSCHEN SOZIAL-KULTURELLEN GESELLSCHAFTEN IN POLEN ZUM BEGINN DES NEUEN SCHULJAHRES 2020/2021

OFFENER BRIEF DES STELLVERTRETENDEN VORSITZENDEN DES VERBANDES DER DEUTSCHEN SOZIAL-KULTURELLEN GESELLSCHAFTEN IN POLEN ZUM BEGINN DES NEUEN SCHULJAHRES 2020/2021

  • 04 Sep 0

04-09-2020

Offener Brief des stellvertretenden Vorsitzenden des Verbandes deutscher sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen zum Beginn des neuen Schuljahres 2020/2021

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Angehörige der Deutschen Minderheit, liebe Unterstützer der deutschen Minderheit, liebe Eltern von Kindern, die Deutsch als Minderheitensprache lernen, liebe Lehrerinnen und Lehrer,

am 1. September haben wir das neue Schuljahr begonnen, das sich aus verschiedenen Gründen von den vorherigen unterscheiden wird. Die Coronavirus-Pandemie veränderte unser Leben und zwang uns immer wieder, neue Aufgaben zu übernehmen und nach neuen Lösungen zu suchen. Zu einer besonderen Herausforderung wurde die Pandemie für Kinder, Eltern und Lehrer. Die Bildung musste man von einem Augenblick auf den anderen umkrempeln und sich darin wiederfinden. Da wir uns der wichtigen Rolle bewusst sind, die sie im Leben unserer Kinder spielt, denke ich, dass wir alle das vergangene Schuljahr mit einem Gefühl der Unzufriedenheit beendet haben. Wir sind uns bewusst, dass ein Elternteil nicht immer in der Lage war, einen Lehrer zu ersetzen, und Online-Unterricht wird den Unterricht im Klassenzimmer und die Lehrer-Schüler-Treffen nicht ersetzen. 

Es war auch ein schwieriges Jahr für den Sprachunterricht, einschließlich des Unterrichts von Deutsch als Minderheitensprache, da die oben beschriebenen Probleme zusätzlich durch das Inkrafttreten einer neuen Auslegung des Polnischen Bildungsministeriums (MEN) verschärft wurden, die den Zugang von Kindern zum Deutschunterricht in den Klassen 7 und 8 der Grundschule einschränkt. An dieser Stelle sollte daran erinnert werden, dass nach Angaben des Bildungsministeriums im Schuljahr 2019/2020 Deutsch als Minderheitensprache in Polen in 145 Einrichtungen unterrichtet worden ist von 7.166 Kindern gelernt, in Kindergärten, 51.513 Schüler in 591 Einrichtungen in Grundschulen,
83 Schüler in 3 Einrichtungen in allgemeinen Lyzeen, 14 Schüler in 1 Einrichtung in technischen Schulen und 74 Schüler in 4 Einrichtungen in Fachschulen. Obwohl diese Zahlen immer noch einen beträchtlichen Umfang des Unterrichts von Deutsch als Minderheitensprache in den Grundschulen veranschaulichen, ist es beunruhigend, dass die Minderheitensprache nach einem in großem Umfang durchgeführten Unterricht auf dieser Ebene in der Sekundarstufe keine angemessene Fortsetzung findet. Das Haupthindernis in dieser Hinsicht sind rechtliche Lösungen (z.B. bezüglich der Abiturprüfung), auf die von Minderheitenorganisationen seit vielen Jahren hingewiesen wird. Diese Schwierigkeiten werden derzeit noch dadurch verschärft, dass der Unterricht von Deutsch als Minderheitensprache in der Mehrzahl der Grundschulen in der 6. Klasse endet, was mit einer ungünstigen Auslegung des MEN bezüglich des Deutschunterrichts in den Klassen 7 und 8 verbunden ist. 

Wir sind uns der wichtigen Rolle bewusst, die die Kenntnis einer Minderheitensprache für Minderheitengemeinschaften, aber auch für ganze Regionen, die von einer bestimmten Minderheit bewohnt werden, spielt. Deshalb werden wir uns weiterhin nicht nur um den Abbau dieser Barrieren bemühen, sondern auch um so wichtige Veränderungen im Bildungssystem, die schließlich zur Umsetzung der Bestimmungen der von Polen ratifizierten Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen führen werden. Alles dies im Glauben, dass es für die Kinder getan wird, deren Entwicklung für alle eine Priorität sein sollte.

Trotz der oben beschriebenen formalen und praktischen Einschränkungen freuen wir uns, dass es uns nach dem Erfolg der außerschulischen Aktivitäten für die Jüngsten in Form der beliebten Samstagskurse gelungen ist, Projektmittel für sprachliche außerschulische Aktivitäten für die Klassen 7 und 8 der Grundschule aufzubringen. Das Projekt für diese Altersgruppe heißt Deutsch AG und soll die sprachliche Entwicklung von Kindern fördern, die in der Schule nur begrenzten Zugang zum Deutschunterricht haben. Die Umsetzung dieses Projekts wurde möglich dank der Entscheidung der Deutschen Regierung, zusätzliche Mittel zur Unterstützung der Deutschen Minderheit in Polen bereitzustellen.

Der Deutschunterricht sollte nicht auf Schulen beschränkt bleiben. Wie für jede nationale Minderheit ist es auch für unsere Gruppe wesentlich, eine Gewohnheit zu entwickeln, in Alltagssituationen Deutsch zu sprechen. Deshalb haben wir großen Wert auf die Entwicklung von Ausnahme-Bildungsprojekten für alle Altersgruppen gelegt, die wir vor allem mit Unterstützung der Bundesregierung umsetzen können.

Im laufenden Kalenderjahr hat die Deutsche Bildungsgesellschaft in Zusammenarbeit mit dem Verband der Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaften in Polen ein weiteres Bildungsprojekt mit dem Namen LernRAUM.pl gestartet, das auf Sprachunterricht in verschiedenen Formen für erwachsene Mitglieder der Deutschen Minderheit gezielt veranstaltet wird. Schon heute ermutige ich Sie, die Projekt-Website und die Projektprofile in den sozialen Medien zu verfolgen.

Eine wichtige Institution zur Unterstützung der Bildung der Minderheiten in Polen wird in Zukunft das Dokumentations- und Ausstellungszentrum für Deutsche in Polen sein, das in Oppeln eingerichtet wird. Die Einrichtung, mit der die Bestimmungen des polnisch-deutschen Runden Tisches umgesetzt werden, soll letztlich ein Ort des Kennenlernens der Geschichte der Deutschen in Polen und ein Ort der Begegnung der Mehrheit mit der Minderheit mit Hilfe von Bildungsprojekten sein. Bis Ende 2020 werden Renovierungsarbeiten im Zusammenhang mit der Anpassung des Gebäudes für die Zwecke des Zentrums durchgeführt, und 2021 sollen die Arbeiten an einer Dauerausstellung über die Geschichte und Gegenwart der Deutschen in Polen beginnen. 

Ein weiteres wichtiges Projekt, das dank der Unterstützung der Bundesregierung im Jahr 2020 ebenfalls einen neuen Rahmen erhalten hat, ist das Forschungszentrum der Deutschen Minderheit. Das Zentrum funktioniert bereits seit einigen Jahren als kleines Projekt des Hauses der Polnisch-Deutschen Zusammenarbeit, aber seit diesem Jahr hat es seine unabhängige Tätigkeit als eigenständiger Verein aufgenommen. Das Hauptziel des Zentrums ist es, die Geschichte, das Erbe und das heutige Leben der Deutschen in Polen zu erforschen und zu entdecken. Bereits heute werden in den Bestand des Zentrums mit Sitz in der Polnisch-Deutschen Zentralbibliothek Eichendorffs in Opole Dokumente und Artefakte gesammelt, die für diese Gemeinschaft von Bedeutung sind.

Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass es sich trotz verschiedener Widrigkeiten lohnt, sich daran zu erinnern, wie viel von uns selbst abhängt, wie viel von unserem Engagement abhängen kann, wie viel jeder von uns einzeln, aber auch gemeinsam an die nächste Generation weitergeben wird. Deshalb möchten wir den Schülern und ihren Eltern dafür danken, dass sie die Bedeutung der Sprache und ihrer Kultur in ihren Familien und in ihrem Leben betonen.  Wir möchten auch jedem Deutschlehrer, jedem Direktor der Einrichtung, in der die deutsche Sprache unterrichtet wird, von Herzen danken für diese tägliche Unterstützung, für diese Freundlichkeit gegenüber denen, die diese Ausbildung suchen. Vielen Dank, dass Sie sich weiterbilden, dass Sie das Angebot des NIWKI-Programms des Regionalen Bildungszentrums nutzen, aber auch das Bildungsangebot ergänzend zur Vorschul- und Schulbildung der Deutschen Bildungsgesellschaft, des Verbandes der Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaften in Polen, des Hauses der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit, der Sozial- Kulturellen Gesellschaft der Deutschen im Oppelner Schlesien und anderer nutzen. Wir möchten den Bürgermeistern für die Unterstützung der Minderheitenbildung in Ihren Bildungseinrichtungen danken! Überwinden wir die Widrigkeiten und nehmen wir neue Herausforderungen an, denken wir daran, dass wir dies immer mit Blick auf das Wohl der Kinder tun! Kinder für die die Kenntnis der deutschen Sprache ein Teil der Entdeckung der eigenen Identität ist, als auch eine Öffnung auf die Wahrnehmung anderer Kulturen und Sprachen bedeutet, die für die die Weiterführung der Identität ihrer Familien verantwortlich sind. Wir wünschen Ihnen vor allem ein gesundes neues Schuljahr und verbleibe dabei,

 

mit freundlichen Grüßen

 

Rafał Bartek

Vizevorsitzender des Verbandes der Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaften in Polen

 

 

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