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02 Jan 0
02-01-2020
Brücken statt Mauern bauen
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor 75 Jahren, kurz vor Weihnachten des Jahres 1944, schrieb der in Breslau geborene Pastor Dietrich Bonhoeffer in einem Berliner Gefängnis ein Gedicht. Dort heißt es in der letzten Strophe:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Seine Worte erhalten einen besonderen Stellenwert, wenn man weiß, dass er vier Monate später, am 9. April 1945 hingerichtet wurde.
Dieses Gedicht möge uns in der symbolischen Zeit des Neujahrsbeginns in zwei Dimensionen führen: die gegenwärtige und die historische. Besonders aktuell klingen mir die obigen Worte, wenn ich mich an jene vor gut einem Dutzend Jahren erinnere, in zehn Jahren werde es in Polen keine Deutsche Minderheit mehr geben. Mit umso größerer Freude und Gelassenheit schreibe ich nun einen weiteren Neujahrsbrief an die deutsche Volksgruppe in Schlesien, Pommern, Ermland, Masuren und allen Ortschaften, in denen wir leben.
Die Nachkriegstragödie
Zugleich sei daran erinnert, dass sich im nun beginnenden Jahr das Ende des grausamen, von der nationalsozialistischen Diktatur des Dritten Reiches ausgelösten Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal jährt. Auf dem durch einen Eisernen Vorhang zweigeteilten Kontinent wurde für Millionen Menschen das Kriegsende nicht zum Ende ihres Leidens. Für die Deutschen östlich davon begann nicht nur die Heimatvertreibung, sondern auch die Hölle sogenannter Arbeitslager, Verschleppung in die UdSSR, Gewalttaten, Zwangsadoption von Kindern und vieler anderer Formen des Leidens, die ebenfalls einen hohen Tribut forderten. Die nachfolgende sprachliche und kulturelle Diskriminierung, die Zwangspolonisierung von Vor- und Nachnamen, das Verbot, Deutsch zu sprechen und zu lernen und viele andere Formen der Menschen- und Minderheitenrechtsverletzung ließen die im Gebiet des heutigen Polens und anderer mittel- und osteuropäischer Länder verbliebenen Deutschen auf Jahrzehnte hin zu Bürgern zweiter Klasse werden. Als eine Gemeinschaft, die in Wahrnehmung der Wohltaten des demokratischen Wandels in diesem Teil der Welt wiedererstehen konnte, schulden wir den Opfern jener Zeit unser Gedenken.
Möge das Jahr 2020 für jede unserer Organisationen und mehrere hundert Ortsgruppen ein Jahr der Hinwendung zu jener schwierigen Vergangenheit werden, die in der offiziellen Geschichtsvermittlung noch immer keinen Platz findet. Tun Sie das in Vorträgen, Zeitzeugentreffen, Feierlichkeiten rund um lokale Gedenkstätten, Gottesdienste und vielleicht auch durch neue Gedenktafeln zur Erinnerung an diese Orte. Der VdG wird Sie im Verlauf des gesamten Jahres auf besondere Weise zu Gedenkfeiern an den vom Nachkriegsleiden ganz besonders betroffenen Orten einladen, so unter anderem nach Lamsdorf, Schwientochlowitz und Potulitz. Lasst uns dann solidarisch zusammen sein, über die Grenzen von Regionen und Ländern hinweg. Wir sollten uns daran ein Beispiel nehmen, die Tragödie aber nicht auf Oberschlesien beschränken, denn sie traf die Deutschen im gesamten Osten Europas. Viele unserer polnischen Nachbarn verstehen auch unser Bedürfnis nach Gedenken, daher sollten wir dies möglichst zusammen mit der gesamten Einwohnergemeinschaft unserer jeweiligen Ortschaften tun. Eine Beachtung unserer Geschichtserinnerung einzufordern bedeutet nicht, Geschichte zu relativieren, sondern vielmehr, Geschichte in ihrer Gesamtheit anzustreben. Die volle historische Wahrheit ist nicht nur Voraussetzung für wahre Versöhnung, sondern auch eine Komponente der Wurzeln, die notwendig sind, um die deutsche Identität zu verstehen und für kommende Generationen zu bewahren. So wandten wir uns bereits im Mai 2019 an staatliche Behörden Polens und Deutschlands, im Jahr des 75. Jahrestages des Kriegsendes auch an die deutschen unschuldigen Nachkriegsopfer der Rache der Sieger zu denken.
Nach Außen wirken
Für diejenigen von uns, die ihre regionale und deutsche Identität bewusst bewahren wollen, war das vergangene Jahr 2019 ein weiteres recht schwieriges Jahr. Besonders empfindlich traf uns das vergangene Jahr durch die vom Bildungsministerium erzwungene Reduktion der Deutschstunden in den letzten zwei Grundschulklassen. Und die Beratungen am deutsch-polnischen Runden Tisch sowie Aussagen einiger Regierungspolitiker zeigen, dass mittlerweile die schädliche Tendenz stärker wird, uns polnische Staatsbürger deutscher Nationalität als Werkzeuge der Außenpolitik gegenüber Deutschland zu behandeln. So sind die Anträge auf deutsch-polnische Ortsschilder in mehreren Gemeinden seit einigen Jahren nicht bearbeitet worden.
Besonders erfreulich ist daher, dass bei der polnischen Sejm-Wahl mehr Wähler als zuvor für die Liste des Wahlkomitees Deutsche Minderheit in der Woiwodschaft Oppeln gestimmt haben, sodass es uns gelungen ist, erneut einen Abgeordneten der Deutschen Minderheit dort zu etablieren. Wir sind zuversichtlich, dass der Abgeordnete Ryszard Galla sich wie bisher nicht nur für die Wähler aus der Oppelner Region einbringen, sondern auch ein Sachwalter der gesamten deutschen Volksgruppe in Polen sein wird. Angesichts der zunehmenden nationalistischen und europaskeptischen Tendenzen ist dieses klare Zeichen der Multikulturalität im polnischen Parlament auch symbolisch von Bedeutung. Ich gratuliere und danke allen, die zu diesem Erfolg beigetragen haben. Wir wissen, dass wir auch mehr hätten erreichen können und nicht alle Hoffnungen in Erfüllung gegangen sind. Möge uns dies ein Ansporn zu noch mehr Engagement sein, zu einer zahlreichen und aktiven Mitgliedschaft in den Strukturen unserer Organisationen, aber auch zu erhöhter kommunal- und innenpolitischer Aktivität, auch über das Oppelner Schlesien hinaus. Wir brauchen angesichts des das Land spaltenden politischen Systemstreits eine möglichst zahlreiche prodemokratische und proeuropäische Sichtweise, die wir als Minderheit von Natur aus repräsentieren.
Wir unterscheiden uns von den polnischen politischen Parteien darin, dass unsere Stärke stets unsere Heimat ist und die Menschen, die in ihrer Identifikation mit der deutschen Minderheit gleichzeitig auch reich an ihrer Regionalkultur sind. Ohne Ausnahme ist jedem an unseren etwa 500 Begegnungsstätten die schlesische, pommersche oder ostpreußische Kultur und Geschichte, die sich von der polnischen unterscheidet, sowie auch die Zukunft ihrer jeweiligen Heimat, wichtig. Diese zehntausende von Mitgliedern und Sympathisanten tragen eine Idee mit sich, welche die „Menschen der ersten Stunde“ vor dreißig Jahren in eine Organisationsform verwandelten und die Strukturen gründeten, die derzeit unseren Händen anvertraut sind. In vielen Organisationen werden wir nun das 30-jährige Bestehen feiern. Lasst uns dabei auch diejenigen nicht vergessen, die noch früher Strukturen gründen wollten und dabei gegen die Kraft eines totalitären Staates gestoßen waren und dies mit Gefängnisstrafen oder einer Zwangsausweisung aus der Heimat bezahlten.
Deutsche Gemeinschaft
Von Anfang an bleibt das Ziel aller Strukturen der Deutschen Minderheit unabänderlich der Aufbau einer Gemeinschaft, die nicht nur für die deutsche Sprache und Kultur in Polen Sorge trägt, sondern auch für ein Gefühl des nationalen Zusammenhalts mit allen, die sich als Deutsche empfinden. Der Weg zu diesem Ziel war anders zu Beginn, als die Gründer noch Zöglinge deutscher Schulen waren und Polen noch außerhalb der EU war und er muss anders sein jetzt, da ihre Nachfolger – geboren und ausgebildet bereits in einer Zeit der Diskriminierung alles Deutschen und später, als die Grenze zwischen Polen und Deutschland zu einer EU-Innengrenze wurde –, das Organisationsruder übernommen haben. Es verändern sich Medien, Kommunikationstechniken, kulturelle Inhalte und die Deutschkenntnisse. Mit all dem müssen wir Schritt halten. Unsere Reihen verlassen nicht nur die Ältesten, die für immer gehen, sondern auch tausende junge Menschen, die nach Deutschland und in große Ballungsgebiete abwandern. Trotzdem muss die deutsche Volksgruppe eine Gemeinschaft ganz konkreter Menschen bleiben. Diese Struktur, diese Tausende, die sich in den Begegnungsstätten versammeln, können weder durch die besten Medien, noch durch Internetseiten ersetzt werden. Darum müssen unsere Organisationen überall dort ihren lokalen Strukturen dienen, wo diese schwächer geworden sind und sie wiederbeleben, indem sie Kultur- und Jugendaktivitäten animieren. Mögen die aktiveren Ortsgruppen weit um sich ausstrahlen und so zu Zentren der deutschen Kultur im weiten Umkreis werden.
Mit Schmerz sehen wir Organisationen, die anscheinend dieses Ziel aus den Augen verloren haben und ihre Ortsgruppen sich selbst überlassen. Wir würden es begrüßen, wenn diese sich dadurch zu mehr Aktivität motiviert fühlen. Das letzte Jahr brachte uns auch die Gründung einiger neuer Organisationen, die ihre Zukunft auf eigenständige Aktivitäten stützen wollen. Wir wünschen ihnen viel Erfolg und erklären uns bereit zu helfen. Wir erwarten jedoch, dass alle Mitgliedsorganisationen des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen verantwortungsvoll einer aktiven Tätigkeit im Sinne ihrer Mitglieder und der von uns repräsentierten Kultur nachgehen. Ich fordere dazu auf, interne Streitigkeiten beizulegen und keineswegs durch Mitgliederausschluss zu lösen. Ein Entfernen aus der Gemeinschaft der Deutschen Minderheit darf nicht missbraucht werden. Menschen sind am wichtigsten und eine Amtsausübung muss ihnen gegenüber Dienstcharakter haben.
Neue Herausforderungen
Unsere Erwartung an Aktivität ist durch ein solides Programm untermauert. Als Dachorganisation der Deutschen Minderheit können wir an der Schwelle zum Neuen Jahr unsere Freude teilen, denn unser Bemühen hat im deutschen Bundestag Anerkennung gefunden, was uns nun ermöglicht, in den für uns wesentlichen Bereichen verstärkt aktiv zu werden. Bereits vor 30 Jahren haben wir bei der Versöhnungsmesse in Kreisau das Transparent „Wir fordern deutsche Schulen” aufgerollt. Diese Erwartung ist in Polen noch immer eine unerfüllte Forderung, ohne die es schwierig ist, die Rückstände einer jahrzehntelangen sprachlichen und kulturellen Diskriminierung aufzuholen. Die letzte Reduktion der Deutschstunden an Grundschulen bringt keine Hoffnung auf eine angemessene Bildungspolitik gegenüber nationalen Minderheiten. Darum ist die Entscheidung des Bundestages zur umfassenden Förderung der außerschulischen Vermittlung der deutschen Sprache, deren Kenntnis die Grundlage des Identitätsaufbaus ist, so wichtig. Da die staatliche Politik in der Vergangenheit weitgehend zum Zerreißen der sprachlichen Kontinuität der Generationen geführt hat, reicht ein Basieren einzig auf der Schule nicht aus. Damit jedoch unsere Vorhaben Wirklichkeit werden können, braucht es ein starkes Verlangen und die Liebe zur Sprache unserer Vorfahren in den Familien, denn nur dann kann das neue Angebot auch Anklang finden. Das neue Angebot wird das, was durch Sprachkurse, Samstagskurse für Kinder oder die Jugendbox bereits geschieht, noch erweitern.
Die Weitergabe der Identität erfordert auch ein Wissen um die eigenen Wurzeln und dieses setzt wissenschaftliche und dokumentarische Forschungen voraus. Die neuen Förderschwerpunkte geben uns Zuversicht, dass das ins Leben gerufene Forschungszentrum der Deutschen Minderheit gut in Schwung kommt und in Oppeln ein Dokumentations- und Ausstellungszentrum entsteht, wo Deutsche, nicht nur aus Schlesien, sondern auch aus Pommern, dem Ermland und Masuren, ihre Geschichte und dabei insbesondere ihre Nachkriegsgeschichte, die noch immer nach Wiederentdeckung und Verbreitung verlangt, lernen können. Das jüngste Ringen mit dem Bildungsministerium zeigt, dass wir für unsere Kinder Vereinsschulen benötigen, die mit Organisationen der Deutschen Minderheit eng verbunden sind und ihr Angebot an Familien mit einer deutschen Identität richten. Es geht dabei nicht lediglich um eine gute Kenntnis der deutschen Sprache, sondern auch darum, die Kinder in Offenheit für die eigene Kultur und Identität zu erziehen, welche sich von der der Mehrheitsbevölkerung unterscheidet. Um eine Erziehung im europäischen Geiste der Offenheit, Toleranz und Multikulturalität. Die jüngsten Beschlüsse des Bundestages ermöglichen es uns, solche Schulen zu suchen, sie zu gründen und die von unseren aktiven Mitgliedern initiierten zu unterstützen.
Volkszählung
Das Jahr 2020 geht einer nationalen Volkszählung voraus, bei der wir wie immer Gelegenheit bekommen, unsere nationale Identität zu demonstrieren. Lasst uns diese Thematik in unseren Organisationen, Gruppen und Projekten aufgreifen. Das Bedürfnis nach einer klaren Definition der eigenen Nationalität ist kein alltägliches Erfordernis. Unsere kulturelle Identität ist vielschichtig, denn wir sind Deutsche und dabei immer noch z.B. Schlesier oder Ermländer. Einer klaren Bestimmung der deutschen Volkszugehörigkeit sind die nationalistischen Tendenzen in der Politik und den Medien oder auch Ängste aus der Vergangenheit nicht förderlich. Viele, insbesondere global orientierte junge Menschen suchen nach einer postnationalen Identität. Wir sollen Nationalität weder mit globalen Begrifflichkeiten, noch mit regionaler Identifikation oder der Staatsbürgerschaft verwechseln. Wir sollten uns öffnen, auf dass wir in der Lage sind, uns zu einer weitgefassten deutschen Nationalität zu bekennen, die uns nicht nur mit den Deutschen in Deutschland verbindet, sondern auch mit denjenigen, die ähnlich wie wir als nationale Minderheiten in 25 Ländern Europas leben.
Viele von ihnen ringen mit ähnlichen Problemen wie wir. Deshalb werden wir uns nun weiterhin gemeinsam mit anderen nationalen Minderheiten darum bemühen, dass den Minderheitenrechten und ganz besonders ihrer Umsetzung EU-weit mehr Bedeutung verliehen wird. Auch in Polen möchten wir, ebenso wie unsere Landsleute in Rumänien oder die Polen in Litauen, eigene Schulen mit muttersprachlichem Unterricht haben. Als VdG haben wir uns für die erfolgreich ausgegangene Europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack” eingesetzt und bemühen uns jetzt darum, dass sie in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament übernommen wird.
All denjenigen, die unserer Volksgruppe ihre Arbeit und Aktivität, insbesondere ehrenamtlich, geschenkt haben, danke ich herzlich. Gehen wir nun weiter Arm in Arm zu den Herausforderungen des Jahres 2020. Mögen uns dabei die Worte des Dichters Ulrich von Hutten aus dem 15. Jahrhundert voranleuchten: „Deutsche sind dort, wo starke Herzen sind.” Ich danke allen, die unsere Ziele und Projekte unterstützen, darunter den Regierungen Polens und Deutschlands. Haben wir keine Scheu, uns mutig um alles zu bemühen, was unsere deutsche Identität festigen wird. Denken wir daran, dass die Hervorhebung der eigenen Verschiedenheit und eigener Bedürfnisse nicht dabei hinderlich sein muss, Brücken statt Mauern zu bauen.
Mit Hoffnung auf einen gemeinsamen Weg möchte ich nun mit einem Glückwunsch und Gedanken aus dem eingangs angeführten Gedicht von Dietrich Bonhoeffer schließen:
„Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit Euch leben,
und mit euch gehen in ein neues Jahr.“
Ich wünsche uns allen, die wir die Gemeinschaft der Deutschen in Polen bilden, unseren Freunden und Sympathisanten, viel Eifer und Hingabe in ihrer Arbeit, aber auch Genugtuung über die erreichten Ziele. Ich wünsche, dass wir konsequent sein mögen, besser verstanden und unterstützt beim Aufbau einer durch ihre sprachliche und kulturelle Vielfalt reichen Gesellschaft. Ich wünsche, dass Gott Euch Gesundheit und Glück im Leben schenkt.
Bernard Gaida
Präsident des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen